The Notwist im Carlswerk VictoriaDie Band, in die man sich immer wieder verlieben kann

Lesezeit 3 Minuten
23.04.2024
Köln:
Konzert The Notwist im Carlswerk Victoria.
Foto: Martina Goyert

The Notwist im Carlswerk Victoria. Im Vordergrund Sänger und Songschreiber Markus Acher

Vor 35 Jahren gründeten Markus und Micha Acher im oberbayerischen Weilheim The Notwist. Heute sind sie der beste deutsche Live-Act. Unsere Kritik.

Ganz zart und zögerlich setzt Markus Acher an, säuselt von den Sternen, die vom Himmel fallen können und davon, dass die Liebe nie so weh tun kann, dass man sich nicht wieder verliebt. Und Karl Ivar Refseths Vibraphon schwingt dazu. Aber es dauert nicht lange, bis die gesamte Band mitschwingt.

Aus einer Frau und sechs Mann setzt sich die Live-Ausgabe von The Notwist zusammen, aber das ist schon zu viel des Zählens, denn eigentlich ist das hier ein einziger Klangkörper. Der hebt sogleich mit gewaltigem Rückstoß ab, den Sternen auf halbem Weg entgegenkommend. „Exit Strategy to Myself“ prescht von Andi Haberls mächtigem Schlagwerk angetrieben bis zur finalen Kakophonie voran, „Kong“ wachsen mithilfe von Micha Achers Bass Riesenaffenmuskeln. Seltsam, dass alle diese Lieder im Grunde von existenzieller Verlorenheit erzählen. Im Kölner Carlswerk Victoria fungieren sie nämlich eher als Startrampen für gemeinsame, unerschrockene Raumerkundungen.

Die melancholischen Songs von The Notwist sind Startrampen für irre Trips

Vor 35 Jahren haben die Acher-Brüder aus dem oberbayerischen Weilheim The Notwist gegründet, waren Metal-schwere Hardcore-Punks und bittersüße Indie-Boys, haben sich in diversen Nebenprojekten an Elektro-Pop, Jazz und Underground-Hip-Hop versucht, auch an Sinfonischem. Haben alle diese Ausdifferenzierungen endlich wieder in die Stammband integriert.

Alles zum Thema Konzerte in Köln

Sodass man The Notwist heute als Chimäre bezeichnen könnte, als ein genreloses Musikmischwesen, das mal verkifft dahermarschiert („Ship“), mal in einen hochgepitchten Drum'n'Bass-Galopp ausbricht, der in Free-Jazz-Ekstasen mündet („This Room“), mal den unwahrscheinlichen Weg von traumverlorener Melodie zur Minimal Music zum alles niederwalzenden Walzenwerk nimmt („Night's Too Dark“).

Das Publikum geht diese gewundenen Wege gerne mit und wird dafür regelmäßig mit überraschenden Aussichten hinter der nächsten Kurve belohnt. Wie in „One With the Freaks“ nach regenverhangenen Strophen plötzlich die gitarrenverstärkte Sonne durchbricht. Wie „Pilot“ im ersten Zugabenteil erst einen Funkbass, dann eine Melodica wie von einer Augustus-Pablo-Dubplate verpasst bekommt, wie Markus Acher seine Zeile „different cars and trains“ zum angestoßenen Plink-Plink des Vibraphons samplet, zerhackt und zur ultimativen elektronischen Abfahrt beschleunigt. Wie die Band zum Schluss des Stücks noch einmal den „Pilot“-Refrain wie vom Album anstimmt, nur um noch einmal zu zeigen, wie weit sie derweil gekommen ist.

Für den frühen Kracher „Agenda“ bleibt nur das ursprüngliche Power-Trio aus Gitarre, Bass und Schlagzeug zurück und stößt auf großen Jubel. Aber der Abschied nach zwei Stunden unbegrenzter Möglichkeiten ist ganz sanft: „0-4“, ein kurzes Instrumental vom 1998er-Album „Shrink“ klingt im neuen Arrangement wie das schönste Liebesthema, das Ennio Morricone nie komponiert hat. Die Sterne sind vom Himmel gefallen. The Notwist sind die Band, in die man sich immer wieder verlieben kann.

KStA abonnieren