Karlspreis-Verleihung in AachenSelenskyj und die Deutschen – Es ist kompliziert

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Wolodymyr Selensky trifft zur Verleihung des Karlspreises in Aachen ein.

Wolodymyr Selensky trifft zur Verleihung des Karlspreises in Aachen ein.

Der ukrainische Präsident holt sich den Karlspreis selbst ab. Im Vorfeld gab es Irritationen – und die gibt es auch im Verhältnis zwischen Selenskyj und der deutschen Führungsebene.

Die Fotos teilen das Leben von Wolodymyr Selenskyj in ein Vorher und ein Nachher. Hier der frische Wahlsieger, ein jungenhaft wirkender ehemaliger Schauspieler, der im feinen Anzug im Juni 2019 zum Antrittsbesuch nach Berlin kommt. Dort der Präsident eines von Russland überfallenen Landes, der im olivfarbenen Pullover die Welt per Video auf internationalen Konferenzen oder beim Blitzbesuch in westlichen Hauptstädten um Hilfe bittet. Er trägt nun Vollbart, sein Gesicht erzählt vom Krieg. Es liegen nicht einmal vier Jahre zwischen den Bildern, aber man mag es kaum glauben, dass es sich um ein und denselben Menschen handelt.

Karlspreis zeichnet Persönlichkeiten aus, die sich um die Einheit Europas verdient gemacht haben

An diesem Sonntag wird dem 45‑Jährigen und seiner Ukraine, gegen die Russland seit Februar 2022 einen brutalen Angriffskrieg führt, in Aachen der Internationale Karlspreis verliehen. Seit 1950 werden Persönlichkeiten ausgezeichnet, die sich um die Einheit Europas verdient gemacht haben. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gehört dazu, die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), der frühere britische Premierminister Tony Blair und der ehemalige US-Präsident Bill Clinton.

Ein Hubschrauber der Bundespolizei landet am Bundeskanzleramt. Beim Besuch des ukrainischen Präsidenten Selenskyj im Bundeskanzleramt war das Regierungsviertel großflächig abgesperrt.

Ein Hubschrauber der Bundespolizei landet am Bundeskanzleramt. Beim Besuch des ukrainischen Präsidenten Selenskyj im Bundeskanzleramt war das Regierungsviertel großflächig abgesperrt.

Am Sonntag ab 15 Uhr werden Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), EU‑Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) und der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki im ehrwürdigen Krönungssaal des 700 Jahre alten Rathauses den außergewöhnlichen Mann würdigen, der sein Land mit Mut und Kraft gegen das mächtige Russland verteidigt und damit auch für Freiheit und Demokratie in Europa kämpft. 

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Deutschland und die Ukraine – immer wieder geht etwas schief

Deutschland und die Ukraine – das ist ein ganz besonderes Verhältnis. Die frühere Sowjet­republik hat Nazi-Deutschland erlitten. Die von Russland unabhängige Ukraine hat Deutschlands Hilfe gegen Russlands Präsident Wladimir Putin nach dessen Annexion der Krim 2014 im sogenannten Normandie-Format erfahren. Seit Russlands Überfall im Februar 2022 hat Deutschland eine Million ukrainischer Flüchtlinge, unter ihnen vor allem Frauen und Kinder, aufgenommen. Und zugleich geht immer wieder irgendetwas schief.

Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, trägt sich vor seinem Gespräch mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (r) in das Gästebuch im Schloss Bellevue ein.

Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, trägt sich vor seinem Gespräch mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (r) in das Gästebuch im Schloss Bellevue ein.

Jemand von der Berliner Polizei hatte vorige Woche Medien gesagt, Selenskyj werde anreisen und an dem Wochenende vorher auch nach Berlin kommen. Eine Informationskatastrophe angesichts der Lebensgefahr, in der der ukrainische Präsident auf Schritt und Tritt ist. Die Mitteilung, dass – und an welchem Tag – er mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprechen und von Bundeskanzler Olaf Scholz mit militärischen Ehren im Kanzleramt empfangen werden würde, ist ein gefährliches Störmanöver. Russland will seinen Staatsfeind Nummer eins umbringen, er hat die höchste Sicherheitsstufe. All seine Besuche im Ausland seit Kriegsbeginn blieben so lange geheim, bis seine Ankunft als Überraschung galt. Nur in Deutschland wird darüber zehn Tage vorher geplaudert.

Ich hoffe, dass es nur ein dummer Fehler in der Verwaltung war
Andrij Melnyk, früherer ukrainischer Botschafter in Deutschland

„Peinlich“, nennt das der frühere ukrainische Botschafter in Deutschland und jetzige Vize­außenminister in Kiew, Andrij Melnyk, im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Es ist das erste Mal, dass ein Auslandsbesuch meines Präsidenten während des Krieges vorab öffentlich wurde. Ich hoffe, dass es nur ein dummer Fehler in der Verwaltung war.“ Seither gibt es von offizieller Seite keine Auskunft mehr dazu, und die Berliner Polizei ermittelt wegen Geheimnisverrats. Diese schwere Panne passt aber zum angespannten deutsch-ukrainischen Verhältnis auf Regierungsebene seit Selenskyjs Wahlsieg über Petro Poroschenko.

Merkel empfing Poroschenko und nicht Selenskyj

Angela Merkel empfängt noch kurz vor der Stichwahl in der Ukraine im April 2019 Poroschenko in Berlin – aber nicht Selenskyj. „Wahlkampfhilfe für Poroschenko!“ schimpfen Kritiker. Merkel kann ihn besser einschätzen als Selenskyj, ihr Vertrauen in die Ukraine ist nicht unerschütterlich.

Vor allem die Korruption gilt als großes Problem. Ihr Vertrauen in Poroschenko ist 2015 gewachsen, als sie mit ihm und dem damaligen französischen Staatschef François Hollande nach Moskaus völkerrechtswidriger Annexion der Krim in Minsk mit Putin über ein Friedensabkommen für die Ostukraine verhandelt hat. Doch in den ostukrainischen Regionen Luhansk und Donezk kämpfen von Russland unterstützte Separatisten weiter gegen Regierungstruppen. Tausende Menschen sterben.

Selenskyj stand neben Merkel, als die erstmals in der Öffentlichkeit zitterte

Die Stichwahl gewinnt tatsächlich Selenskyj, Merkel empfängt ihn im Juni 2019 mit militärischen Ehren. Beim Anblick der aufmarschierten Bundeswehrsoldaten beginnt sie erstmals für eine breite Öffentlichkeit wahrnehmbar zu zittern. Die plötzliche internationale Sorge um die als krisenfest bekannte deutsche Regierungschefin überschattet das Treffen. Es verhallt seine Mahnung, die Krim verwandele sich in ein russisches Militärlager. Als starker Mann präsentiert sich Selenskyj allerdings schon damals. Auf die Frage an Merkel, wie es ihr nach dem Zitteranfall gehe, antwortet Selenskyj: „Was Frau Merkel anbelangt, so stand ich neben ihr. Glauben Sie mir: Sie war in voller Sicherheit!“

Zwei Jahre, im Juli 2021, später ist er wieder da. Mit dramatischerem Appell: Die geplante Ostseepipeline Nord Stream 2 von Russland nach Deutschland sei eine „geopolitische Waffe“ Putins. Dabei geht es der Ukraine nicht darum, dass Russland kein Gas nach Deutschland liefern soll. Sondern um die Verlängerung des bis 2024 abgeschlossenen Vertrages für den Transit von Gas aus Russland durch die Ukraine nach Europa. Kiew befürchtet, dass der lukrative Vertrag nicht verlängert wird, wenn die Röhre Nord Stream 2 fertig ist. Selenskyj warnt zugleich vor der „hohen Konzentration der russischen Truppen an der Staatsgrenze der Ukraine“.

Merkel unternimmt in den letzten Wochen ihrer Kanzlerinschaft noch einen Anlauf für das sogenannte Normandie-Format, für das sie zur Befriedung der Ukraine lange gekämpft hat. Sie sucht Putin zum Abschied in Moskau auf, sie fordert ihn zur Transit-Vertragsverlängerung mit der Ukraine auf und pocht auf deren territoriale Souveränität. Putin lässt das abtropfen. Er hat von der scheidenden Merkel, die er immer respektiert hat, bald nichts mehr zu befürchten.

Selenskyj forderte Waffen – Merkel lehnte ab

Zwei Tage später fliegt sie ein letztes Mal zu Selenskyj nach Kiew. Dort bietet sie „noch einmal ein Treffen auf der politischen Führungsebene, mit mir, dem französischen Präsidenten und natürlich dem russischen und dem ukrainischen Präsidenten“ an. Selenskyj fordert Waffen. Merkel lehnt ab. Ein halbes Jahr später ist Krieg.

Scholz hält wenig später eine beeindruckende Rede. Mit seiner Analyse der „Zeitenwende“ und seinen Warnungen an Putin geht ein Ruck durch das Land. International steigt die Hoffnung, Scholz gehe voran. Aber es kommt anders. Seine vorsichtigen Schritte, immer in Abwägung, ob eine unbedachte Entscheidung den dritten Weltkrieg auslesen könnte, werden als Zaudern ausgelegt.

Kiew hasst die Steinmeier-Formel

Als Bundespräsident Steinmeier im April 2022 aus Solidarität mit Selenskyj nach Kiew fahren will, lädt die ukrainische Führung ihn kurzfristig aus. Das liegt an einer Formel, die seinen Namen trägt. Die Steinmeier-Formel sah ein Sonderstatusgesetz für Luhansk und Donezk vor, wo es Lokalwahlen geben sollte – ohne dass über die Krim verhandelt worden wäre und Russland alle Truppen aus den besetzten Gebieten abgezogen hätte. Die Steinmeier-Formel gehört zu Putins Lieblingswörtern, in Kiew ist sie verhasst.

Olaf Scholz solidarisiert sich wiederum mit seinem Parteifreund Steinmeier und fährt zunächst einmal auch nicht nach Kiew. Erst als zahlreiche europäische Spitzenpolitiker Selenskyj besucht haben, macht sich auch Scholz im Juni 2022 auf den Weg – zusammen mit Staatsmännern aus Frankreich, Italien und Rumänien. Dies und seine anfängliche Bremse bei allen Waffenlieferungen tragen den Deutschen in der Ukraine einen schlechten Ruf ein.

Deutschland hielt sich an Zusagen von Waffenlieferungen

Dass es dann aber vor allem Deutschland ist, das sich im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern an Zusagen hält, mit dem jahrzehntelangen deutschen Tabu der Waffenlieferungen in Konfliktgebiete bricht, Munition, Schützenpanzer, Kampfpanzer und Luftabwehrsysteme liefert, wird von vielen übersehen.

2008 verhinderte maßgeblich Merkel einen schnellen Nato-Betritt der Ukraine. Sie sah die ukrainische Bevölkerung noch nicht überzeugt von einem Westkurs und wollte Putin nicht provozieren. Inzwischen hat die Ukraine eine Beitrittsperspektive zur Europäischen Union – und die Unterstützer auch für einen Nato-Beitritt werden mehr. Steinmeier hat seine frühere Russland-Politik als fehlerbehaftet bezeichnet. Viele Sozialdemokraten haben sich ihm angeschlossen. Merkel nicht.

Selenskyj dürfte in Aachen erneut Kampfjets fordern

Selenskyj dürfte in seiner Dankesrede am Sonntag wieder um eine schnelle Aufnahme in EU und Nato-Militärbündnis bitten. Und um Waffen. Jetzt sind es Kampfjets, die er fordert. Und Melnyk sagt: „Wir brauchen auch modernste deutsche Waffen, Kriegsschiffe und U-Boote für die Zeit nach dem Krieg.“ Den Deutschen werde eingeredet, „dass jetzt angeblich in puncto Waffen alles picobello sei, als ob es keinen Krieg gäbe.“ Und Scholz weiche Diskussionen über Waffenlieferungen und einen Nato-Beitritt der Ukraine aus.

Selenskyj wird den Deutschen auch wieder für die Aufnahme seiner Landsleute danken. Wer mit einigen von ihnen spricht, kann jedoch auch dies hören: In diesem Krieg gebe es keinen besseren Präsidenten als Selenskyj. Aber, ob er vor dem Krieg der beste war? Viele würde etwas darum geben, wenn sie nicht hätten fliehen müssen - vor Russen, die einmal ihre Freunde oder sogar Verwandten waren. Nun sei alles in Schutt und Asche. Wenn das Land wieder aufgebaut werde, dürften die ausländischen Investitionen nur streng kontrolliert an Kiew vergeben werden, weil als Erstes die Korruption zurückkehren werde.

Wie lange der Krieg dauern wird, weiß keiner. Nur, dass die Versöhnung mit Russland wohl Jahrzehnte brauchen wird. Und andererseits sickert erst langsam ins allgemeine Bewusstsein ein, dass es die Ukraine und ihre Verteidigung gegen Russland sein wird, die auch Deutschland und Europa, vielleicht sogar die Welt verändern wird.

Selenskyj ist das Gesicht dazu.

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